INNERE MEDIZIN
Zuhören!
Wer besonders schnell und laut seine Meinung zum Besten gibt hat manchmal sogar Recht, oft auch nicht! „Meinung“ ist nicht unbedingt auch Wissen und Tempo garantiert nicht immer vorausgegangene Reflexion. Um zu verstehen, haben Innehalten und Zuhören große, leider oft verkannte Bedeutung. Ein Beispiel:
Sie leiden unter drückenden Schmerzen im Oberbauch und gehen deswegen zum Arzt. Wenn Sie diese Beschwerden äußern und dabei einigermaßen zielgenau auf Ihren Bauch deuten dauert es maximal 10 Sekunden, bis sich im Kopf Ihres Arztes die Diagnose „Gastritis“ einstellt und ein paar weitere Sekunden, bis auch die Therapie klar ist: erst mal Säureblocker und zwar für 14 Tage. Sind die Beschwerden dann nicht verschwunden oder kommen nach Absetzen des Medikamentes wieder, so ist eine Magenspiegelung erforderlich, um ein Magengeschwür auszuschließen. So weit, so leitliniengestützt, auch gut!
Was aber, wenn sich hinter den Symptomen der geschluckte Ärger über den arroganten, aber leider unfähigen Vorgesetzten verbirgt? Oder wenn es sich um eine Durchblutungsstörung der Herzhinterwand handelt, deren Erscheinungen manchmal in den Oberbauch projiziert werden? Was, wenn die Schmerzen durch eine muskuläre oder statische Störung im Bereich der Wirbelsäule ausgelöst sind?
Zuhören – eine schlecht genutzte Ressource im Medizinbetrieb
Leitlinien in der Medizin sind hilfreich, weil ihre Berücksichtigung (zunächst!) Zeit spart. Aber sie werden zur Falle, wenn Zeit fehlt, um Fragen zu stellen oder – noch schlimmer – um Antworten abzuwarten. Zuhören ist die am schlechtesten bewertete und genutzte Ressource im aktuellen Medizinbetrieb. Zurück zum obigen Beispiel:
Die Fragen nach dem „seit wann haben Sie die Beschwerden schon“ oder „unter welchen Umständen des Alltages treten die Schmerzen besonders in Erscheinung“ hätten das Denken auf die Schiene psychosozialer Ursachen lenken können, eine stützende Verhaltens- oder Gesprächstherapie wäre der Ursache sicher näher gekommen als die vordergründige Blockade der Säureproduktion im Magen.
Wahr zu nehmen, dass die Schmerzen bei körperlicher Anstrengung zunehmen und das Gehörte im Kopf mit einem bestehenden Bluthochdruck in Verbindung zu bringen, hätte womöglich ein Belastungs-EKG oder eine Herzkatheter Untersuchung zur Folge gehabt, der Zeitverlust durch überflüssige Säureblockade wäre sogar durch ein Mehr an Sicherheit für den Patienten aufgewogen worden, weil die Angina pectoris als mögliche Vorstufe eines Herzinfarktes rascher erkannt worden wäre.
Oder: Ein Leitersturz auf den Rücken vor Jahren hat zu schweren Prellungen der Wirbelsäule geführt, das Erlebte ist seither im Körper wie in einer Art Gedächtnis gespeichert, muskuläre Verspannungen und Verklebungen von Sehnen haben die Statik der Wirbelsäule verändert und deren Folgen projizieren sich nun in den Oberbauch. Nachfragen und vor allem Zuhören hätten den Zusammenhang erkennen lassen und Osteopathie als geeignete Behandlung ins Zentrum der Überlegungen gerückt.
Zuhören ist die Voraussetzung einer menschengemäßen Medizin!
Zuhören macht es möglich, die Entstehungsgeschichte einer Symptomatik zu erkennen und mögliche pathophysiologische Zusammenhänge zu verstehen. Nicht umsonst bedeutet „Diagnose“ im eigentlichen Wortsinn ein „Durch-und-durch-Erkennen“, also nicht nur die Oberfläche eines Phänomens, sondern auch seinen Hintergrund wahr- und ernst zu nehmen. Zuhören ist damit weit mehr als eine zeitaufwändige „Zugabe“ des Arztes, die beim Patienten „gut ankommt“ (und vielleicht manchen Placebo-Effekt auslöst!). Zuhören ist absolute Voraussetzung einer ganzheitlichen Krankheitserkenntnis und damit einer menschengemäßen Medizin!
Zuhören bedeutet Offenheit für Zusammenhänge, die jenseits der Grenzen der eigenen ärztlichen Fachdisziplin liegen! Sie zeichnet Therapeuten aus, die sich der Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit bewusst sind.
Zuhören ist Bedingung für das Entwickeln individueller Behandlungsstrategien. Ein Ayurvedaarzt nimmt andere Aspekte wahr als eine Psychotherapeutin, ein Osteopath oder ein Internist. Im Team aller Beteiligten lassen sich die gehörten und wahrgenommenen Teilaspekte von Krankwerden und Kranksein in einem schlüssigen und am Ende effektiven Behandlungskonzept bündeln.
Zuhören bedeutet Innehalten, manchmal auch warten auf das, was kommen mag. Zuhören ist daher auch das unverzichtbare Gegengewicht in einer Welt der Medizin, die oft genug allein auf Handeln und schnellen Erfolg ausgerichtet ist!
Das überzeugende Gefühl, im Arzt einen zugewandten Zuhörer zu haben, führt beim Patienten überhaupt erst zur Bereitschaft, Wesentliches (und nicht nur vordergründige Symptome) in Worte zu fassen. Dies wiederum hat zur Folge, dass der zum Zuhören bereite Behandler auch tatsächlich zu hören bekommt, was sich hinter den aktuellen Beschwerden womöglich verbirgt.
Zuhören beinhaltet das Eingeständnis, nicht alles besser zu wissen, sondern bereit zu sein für Überraschendes. Zuhören kann den Weg eröffnen von bloßem Wissen hin zu erlebendem Miteinander. Vielleicht ist Zuhören eine Bedingung für den Unterschied zwischen Wissen und Weisheit?