Das Wissen vom Leben
Ein Interview mit Dr. Arun Pavithran (B.A.M.S.)
Seit 2007 ist Dr. Arun Pavithran (B.A.M.S.) im RoSana Kurzentrum für unsere Gäste da: Mit seiner langjährigen Expertise deckt er die Ursachen für gesundheitliche Beschwerden auf, begleitet durch den Kuraufenthalt und gibt auch für die Zeit danach Ayurveda-Bausteine an die Hand, die sich gut in den Alltag integrieren lassen. Wir sprachen mit dem Ayurveda-Experten.
Können Sie uns etwas über Ihre Ausbildung erzählen?
Ich habe in Indien an der Universität studiert – der Studiengang dauert fünfeinhalb Jahre, ein Jahr davon ist ein Praktikum sowohl an einem schulmedizinischen als auch an einem ayurvedischen Krankenhaus. In diesem Studium werden auch die Grundlagen der Schulmedizin vermittelt – Anatomie, Physiologie, Pharmazie, Chirurgie et cetera –, Priorität hat aber das ayurvedische Wissen. Und dieses unterscheidet sich von der Schulmedizin elementar, man kann es nicht miteinander vermischen. In der praktischen Anwendung lassen sich Ayurveda und Schulmedizin zwar durchaus kombinieren, aber beides verfolgt einen komplett anderen Ansatz.
Wie führte Sie Ihr Weg nach Deutschland?
Man muss vielleicht vorausschicken, dass das Ayurveda-Studium an der Universität nicht der Schlusspunkt des Lernens ist. Hier wird der theoretische Baustein gelegt, das Wichtigste kommt eigentlich danach: Man arbeitet zunächst mit einem erfahrenen Arzt zusammen, von dem man die wirklich essenziellen Dinge lernt. Normalerweise suchen sich Ayurveda-Ärzte für zwei bis drei Jahre einen solchen »Mentor«.
So war das auch bei mir und nach drei Jahren erzählte mir mein Mentor von einer Freundin in Deutschland, die auf der Suche nach einem guten Ayurveda-Experten ist. Ich dachte mir, warum nicht? Für ein oder zwei Jahre und danach wieder nach Hause … nun bin ich bereits seit 14 Jahren im RoSana in Rosenheim!
Vermissen Sie etwas aus Ihrer Heimat? Das Wetter vielleicht?
(lacht) Oh ja, vieles. Das Wetter ist eigentlich nicht das Problem, ich mag ein kühleres Klima ganz gerne … vielleicht nicht sechs Monate im Jahr, aber es ist okay. Was ich aber wirklich vermisse, ist das indische Essen!
Wie war es nach Ihrer Ankunft in Deutschland – konnten Sie gleich Ihr ganzes Wissen einbringen?
In Deutschland haben die Menschen generell ganz andere Probleme als in Indien. Folglich war es für mich unmöglich, gleich nach Ankunft Patienten zu behandeln. Ich musste erst die Kultur kennenlernen, mich mit den Menschen beschäftigen, die Probleme erfassen und mir die Ernährung ansehen.
Gerade zu Beginn kamen beispielsweise viele Patienten und sagten mir, sie hätten Burn-out. Glauben Sie mir, ich hatte das Wort Burn-Out in Indien zuvor noch nie gehört! Das Wort »Stress« ist hier in aller Munde, in Indien gab es das vor vierzehn Jahren gar nicht, wenngleich das vielleicht inzwischen anders ist. Es dauerte ungefähr ein Jahr, bis ich die Probleme hierzulande wirklich verstanden hatte.
Zumal man in Deutschland Ayurveda oft mit Wellness verwechselt …
»Ayur« bedeutet Leben und »veda« Wissen – es ist also die Lehre des Lebens. In Indien wird Ayurveda überhaupt nicht mit Wellness in Verbindung gebracht. Hierzu vielleicht ein wenig geschichtlicher Hintergrund: Die Engländer brachten die Schulmedizin erst Anfang des 19. Jahrhunderts nach Indien; zuvor war Ayurveda die einzig praktizierte Medizinlehre. Aber die Schulmedizin wurde schnell populär – die Menschen kamen mit Kopfschmerzen zum Arzt, er gab ihnen ein Medikament und die Kopfschmerzen waren weg. Es war für sie wie ein Zaubermittel. Dabei wurde nicht mehr hinterfragt, woher die Kopfschmerzen eigentlich herrührten. Man ist den Krankheiten nicht mehr auf den Grund gegangen und hat lediglich Symptome behandelt – bei Kopfschmerzen gab es eine Pille, die Kopfschmerzen gingen weg und wenn sie wieder kamen, gab es erneut ein Ibuprofen oder ähnliches.
»Ayur«
bedeutet Leben
und »veda«
Wissen
Ayurveda arbeitet nicht auf diese Weise. Ein Ayurveda-Arzt wird Ihnen kein Schmerzmittel geben – er wird nach den Gründen für die Kopfschmerzen fragen. Hat es etwas mit dem Magen-Darm-Trakt zu tun, mit der Halswirbelsäule oder ist es Stress? Wir gehen all diesen Fragen nach und geben Lösungen an die Hand, damit man in Zukunft keine Kopfschmerzen mehr bekommt, die davon herrühren. Das ist die Essenz von Ayurveda – es spürt die Wurzeln einer Krankheit auf. Und glauben Sie mir, in indischen Ayurveda-Krankenhäusern landen alle Patienten, bei denen die Schulmedizin nicht mehr weiterweiß.
Ist eine Ayurveda-Kur auch ganz ohne akute Beschwerden sinnvoll?
Auf jeden Fall – daher kommt wohl der Bezug zum Begriff Wellness. In Indien werden Ayurveda-Kuren tatsächlich nur bei sehr schwerwiegenden Krankheiten in Anspruch genommen, weil diese für die Menschen dort sehr teuer sind. Hierzulande ist das anders, denn Ayurveda ist zugleich die perfekte Medizin für Krankheitsprävention. Wir sollten nicht immer warten, bis wir krank werden – im Ayurveda gibt es viele Anwendungen, die das Immunsystem stärken und Krankheiten vorbeugen.
Sehen Sie denn Ihren Patienten auf den ersten Blick ihre gesundheitlichen Defizite an?
Jeder Kur liegt ja eine gründliche Anamnese zugrunde, für die ich mir mindesten eine bis eineinhalb Stunden Zeit nehme. Auf den ersten Blick kann man natürlich einiges erkennen – wie bewegt sich jemand, wie ist seine Körpersprache –, aber das erfordert viel Erfahrung und ersetzt keine tiefgehende Anamnese. Denn ich möchte ja ergründen, warum gewisse Beschwerden vorhanden sind. Liegen die Probleme im Alltag, ist es die Ernährung oder der Mangel an Bewegung? Es gibt viele Faktoren und mein Job ist es, eine Art Anleitung zu geben, den Beschwerden an ihrer Wurzel entgegenzuwirken, damit sie nicht wiederkehren.
Sind die meisten unserer Beschwerden tatsächlich unseren täglichen Gewohnheiten geschuldet?
Die meisten Krankheiten in Deutschland oder Europa – und da ich schon so lange hier bin, kann ich das wirklich untermauern – sind zu etwa 80 Prozent stressbedingt. Hier beginnen die meisten Probleme, danach folgen schlechte Ernährungsweisen und Mangel an Bewegung. Und hier kann Ayurveda wirklich gut ansetzen. Wenn man einen Schulmediziner aufsucht, hat dieser etwa 15 Minuten für die Konsultation Zeit – in 15 Minuten habe ich noch nicht einmal richtig angefangen! In dieser Zeit lerne ich den Patienten erst ein bisschen kennen und führe ein freundliches Gespräch, um Vertrauen aufzubauen. Das ist ganz wichtig: Nur wenn sich der Patient mir gegenüber öffnet, kann ich den Beschwerden wirklich auf den Grund gehen.
Kann man sagen, dass Schulmedizin für den Patienten eher passiv ist und er sich im Ayurveda selbst einbringen muss?
Definitiv! Jeder ist selbst für seine Gesundheit verantwortlich. Man kann die Verantwortung dafür niemandem anderen zuschieben. Der Arzt kann Ihnen Anleitungen geben, aber letztlich ist es die eigene Verantwortung zu verstehen, was verkehrt läuft. Was muss ich in meinem Leben ändern, damit es mir besser geht?
Das ist wohl der größte Unterschied zur Schulmedizin, oder? Normalerweise gehe ich zum Arzt und gebe dort meine Probleme ab …
Ja, genauso funktioniert Schulmedizin. Hallo, hier bin ich, gib mir bitte ein Medikament, damit es mir wieder gut geht. Das ist aber in meinen Augen der verkehrte Ansatz – der Patient muss verstehen, warum er welche Probleme hat und was er persönlich dafür tun kann, damit es ihm besser geht.
Aber ich verstehe natürlich die Limitation der Schulmediziner. Sie haben nun einmal nicht die Zeit dafür und verfolgen ein anderes Ziel. Ich habe hingegen jede Menge Zeit.
Bei welchen Beschwerden ist Ayurveda besonders hilfreich?
Sehr effektiv ist Ayurveda bei Magen-Darm-Beschwerden – diese haben in den letzten fünf Jahren ohnehin enorm zugenommen. Darüber hinaus ist Ayurveda bestens geeignet, um das Immunsystem zu stärken. Aber auch bei Rheuma, Arthritis und anderen Gelenkproblemen oder Allergien und seelischen Verstimmungen kann Ayurveda sehr hilfreich sein.
Ayurveda umfasst ja verschiedene Bausteine wie Ernährung, Yoga, Massagen etc. – spielt das alles zusammen oder gibt es eine Art Gewichtung?
Das hängt natürlich vom Patienten ab und was er genau fokussieren möchte. Ayurveda verhilft ihm zu einem guten Lebensstil, zu täglichen Routinen wie etwa einer Ernährungsumstellung. Der wichtigste Punkt ist aber, dass Ayurveda Geist und Körper wieder in Einklang bringt. Während einer Ayurveda-Kur beginnt man, wieder mit seinem Organismus zu kommunizieren. Viele Menschen haben überhaupt keine Verbindung mehr zu ihrem Körper. Ayurveda hilft, diese wieder herzustellen.
Gibt es den einen ayurvedischen Tipp, den jeder sofort in seinem Leben umsetzen kann?
(lacht) Einen Tipp? Ich glaube nicht, dass es den gibt. Es hängt ja ganz von dem Problem ab, das man hat. Wenn jemand klagt, er würde morgens schwer aus dem Bett kommen und mir gleichzeitig erzählt, dass er seine Hauptmahlzeit am Abend zu sich nimmt, dann habe ich den einen Tipp: Nimm die Hauptmahlzeit mittags ein. Ansonsten ist Ayurveda sehr individuell und hat keine magischen Ratschläge parat. Es gibt aber natürlich Dinge, die jedem gleichermaßen guttun: Den Tag mit ein paar Gläsern Wasser sowie einer Meditation oder Yoga zu beginnen, ab und zu ein warmes Frühstück zu sich zu nehmen, die Hauptmahlzeit mittags zu essen und dafür abends spazieren zu gehen …
… oh je, ich mache so viele Dinge verkehrt. Meist habe ich nur abends Zeit zum Kochen …
Ja, das höre ich immer – abends ist Familienzeit, man sitzt und isst zusammen. Aber glauben Sie mir, das späte Abendessen tut der Gesundheit nicht gut. Es genügt ja schon, das Abendessen früher zu planen, vielleicht um 18 Uhr, und danach noch etwas spazieren zu gehen. Aber um 20 Uhr zu essen und danach auf der Couch zu versinken, ist wirklich nicht ratsam.
Das wäre eine kleine Umstellung – aber das wäre wahrscheinlich nur ein kleiner Baustein unter vielen, oder?
Viele Menschen sind sehr konfus – sie wissen nicht, wo sie mit Veränderungen anfangen können. Bei der Ernährung, der Bewegung oder den Schlafgewohnheiten? Wir im RoSana zeigen Punkte auf, die man leicht ändern und im Alltag integrieren kann. Ich selbst kann komplizierte Pläne nicht ausstehen und glaube, eine neue tägliche Routine sollte zum Lifestyle der Menschen passen. Sie soll keine Last sein, sondern Leichtigkeit und Freude mit sich bringen. Ich frage meine Patienten auch immer, ob dies oder jenes für sie überhaupt möglich ist. Nur so kann es Teil ihres Lebens werden. Natürlich ist es bei ernsthaften Erkrankungen etwas anderes, hier muss man rigoroser sein. Aber ansonsten handelt es sich um Vorschläge, einfache Dinge zu ändern. Es ist wirkungsvoller, einige Punkte an die Hand zu geben, die wirklich dauerhaft praktikabel sind, als ein dicker Katalog, der niemals zur Anwendung kommt.
Gab es einmal eine Rückmeldung nach einer Behandlung, die Sie besonders berührt hat?
Oh ja. Vor einigen Jahren hatte ich eine 18-jährige Patientin, die extrem an Schuppenflechte litt – ihr ganzer Körper war übersät von entzündeten Stellen. Niemand konnte ihr helfen, sie lebte sehr isoliert und war dadurch fast schon suizidal depressiv. Natürlich war nach der Kur nicht alles in Ordnung und ich gab ihr eine ziemlich rigide Diät mit auf den Weg, die sie tapfer und konsequent einhielt. Über die Jahre blieben wir in Kontakt und sie erzählte immer von ihren Fortschritten. Irgendwann kam sie, inzwischen verheiratet und mit einem kleinen Kind, nach Deutschland und ich konnte es selbst kaum glauben: Ihre Haut war vollkommen geheilt. Fast unter Tränen sagte sie mir, sie hätte damals nicht geglaubt, jemals wieder gesund zu werden, zu heiraten, ein Kind zu bekommen und damit ein ganz normales Leben zu führen. Das war ein besonders berührendes Ereignis. Letztlich war es einzig ihr starker Wille, etwas in ihrem Leben zu verändern.